Von Martin Holz
‚Das Feuer machte ihm keiner nach‘ (1) und ich will sehen woher der Rauch kommt über Leipzig – der ehemaligen Kohlestadt. Irgendwo muss er sein, der ‚alte Schnakenhascher‘ (2) und ich folge dem Ruß auf den Wegen dorthin. Hinter einer Landschaft mit ausgeweideten Fabriken und Bahngleisen bündeln sich die dunklen Luftschichten und brechen zusammen in einem Knäuel großmäuliger Plattenbauten: Stadtteil Grünau. Irgendwo dazwischen lese ich Rauchzeichen und ich brauche ihrer Geheimsprache nur zu folgen – in eine Straße mit Zwergenhäusern und dort muss es sein. Das Klingelschild trotzt den fiesen Jahrzehnten, der Rost wäscht die Namen nicht vom Blech: Böhme.
Wie ich das Ende der Hühnerleiter erreiche, die zum Dachboden, dem Arbeitszimmer, führt umzingeln mich Fotografien wie lebendige Fossilien: alle reden ihre Geschichten in verschiedenen Sprachen, sie quengeln und nörgeln, denken aber nicht daran ihre Worte zu übersetzen. Thomas Böhmes Texte tun das oder man glaubt, dass sie das tun, für einen Moment jedenfalls, den, bevor das Schweben einsetzt oder eine Art erotischer Schwerkraft. Sie wickelt sich wie die Wiesen der Kindheit um die Füße und das Rascheln der Gräser dabei – es erzählt einen ‚latenten Roman‘ (3). Es kritzelt ‚Flüchtigkeitsprotokolle‘ (4), ‚die sich der leimgewordenen Wirklichkeit entziehen'(5). Der Duft der Worte droht dabei manchmal die Zirkulation der Texte wie ein Stromnetz zu überlasten und so läuft die Sprache Gefahr sich selbst zu überfrachten. Mit dem gut gehüteten Blick der Kindheit kann man dieser Sinnlichkeit jedoch folgen und die geheimen Schlupfwinkel aufspüren. In manchen Gedichten werden diese Verstecke durchschnitten, aus der eben noch erotischen Schwerkraft wächst ein bedrohliches, aber dennoch anziehendes Du, das die Panzerung abschält im ‚Duft deiner schweren Waffen‘ (6). Magst du ein, zwei Texte hören, fragt er, zündet sich eine Pfeife an und ich habe geglaubt ihm bereits zu zuhören.
Während ich ihm folge, verirre ich mich, ähnlich wie die Figuren Bell und Alker aus ‚Dämmerung mit Dingen‘ (7), deren Bewegungen sich im Verlaufen erschöpften (8). Während diese Figuren als ‚kulinarische Kategorien versagt […] haben‘ (9) laufe ich das eigene Verirren wie eine kreisrunde Route immer wieder ab. Es setzt ein, wenn man nicht bereit ist den Text zu verlassen, denke ich, man steigt in die Haut der Figuren und sie werden das Schneckenhaus der eigenen Handlung. Dieser Gefahr zu verfallen ist leicht, wenn man sein Buch ‚Vom Fleisch verwilderte Flecken‘ (10) gelesen hat, denn es kann sein, dass man dort nicht mehr herauskommt. Welchen Text er an diesem Abend auch liest, er buchstabiert die Buchstaben dieses Buches, das so anfängt, wie es aufhört und das so aufhört, wie es anfängt. Dieses Knäuel tut sich in Böhmes Arbeiten immer wieder auf: eine in Schleifen verknotete Handlung entwirft ein Spinnennetz, in das man hineingeht wie in einen Tunnel. Er endet mit dem Schweigen, dass eimerweise verschüttet wird, wenn die letzte Zeile gesprochen wurde. Ein umgekehrter Brunnen: wenn man nicht aufpasst bleibt man zurück auf der anderen Seite und sucht die Spindel im Schatten der Buchstaben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es wirklich heraus geschafft habe, als ich die Straße betrat, angestarrt von Zwergenhäusern mit dem Geruch von Ruß in den Ohren.
Anmerkungen
Beitragsbild: Nancy Martin
1 Zit. nach ‚Das Feuer machte ihm keiner nach‘ aus ‚Heimkehr der Schwimmer‘ (Druckhaus Galrev 1996)
2 Zit. aus ‚Der Schnackenhascher‘ (Projekte-Verlag Cornelius 2010)
3 Zit. aus ‚Vom Fleisch verwilderte Flecken‘ (Roman, Galrev, Berlin 1995)
4 Zit. aus ‚Vom Fleisch verwilderte Flecken‘
5 Zit. aus ‚Vom Fleisch verwilderte Flecken‘
6 Zit. aus ‚Der Duft deiner schweren Waffen‘ aus ‚Alle Spur wird Fell‘ (Gedichte, Galrev, Berlin 1998)
7 ‚Dämmerung mit Dingen‘ (Roman, Galrev, Berlin 2001)
8 Ich paraphrasiere den Klapptext zu ‚Dämmerung mit Dingen‘ verfasst von Thomas Kunst
9 siehe Anmerkung (8)
10 siehe Anmerkung (3)
Über Thomas Böhme
1955 in Leipzig geboren, lebt ebenda
1982-84 Fernstudium am Literaturinstitut Leipzig
Seit 1985 mit Unterbrechungen als freiberuflicher Autor tätig
1988 Georg-Maurer-Preis der Stadt Leipzig
1994 Ehrengabe der Schiller-Stiftung Weimar.
2006 Literaturförderpreis Sachsen (News 129 im Poetenladen)
Veröffentlichungen
‚Mit der Sanduhr am Gürtel‘: Gedichte, Aufbau-Verlag, Berlin; Weimar 1983
‚Die schamlose Vergeudung des Dunkels‘: Gedichte, Aufbau-Verlag, Berlin; Weimar 1985
‚Stoff der Piloten‘: Gedichte, Aufbau-Verlag, Berlin; Weimar 1988
‚Einübung der Innenspur‘: Roman, Aufbau-Verlag, Berlin; Weimar 1990
‚Ich trinke dein Plasma. November‘: 2 dreizehnzeilige und 100 zwölfzeilige Gedichte, Aufbau-Verlag, Berlin; Weimar 1991
‚Häutungen, häufiger Herbst‘: 22 Gedichte (mit Holzschnitten von Frank Wahle), Edition m, Leipzig 1991
‚Ballett der Vergesslichkeit‘: Gedichte, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1992
‚Manessischer Ikarus‘: sechsundsechzig Gedichte von 1980 bis 1995, ROSPO, Verlag für Lyrik und Kunst, Hamburg 1995
‚Vom Fleisch verwilderte Flecken‘: Roman, Galrev, Berlin 1995
‚Heimkehr der Schwimmer‘: Gedichte, Galrev, Berlin 1996
‚Im Ort: Mansfelder Texte‘: Dr.-Ziethen-Verlag, Oschersleben 1996
‚Die Zöglinge des Herrn Glasenapp‘: Erzählungen, Eremiten-Presse, Düsseldorf 1996
‚Geruch des Gastes‘: Roman, Thomas-Verlag, Leipzig 1996
‚Die Körper und das Licht‘: Roman, Die Scheune, Dresden 1998
‚Alle Spur wird Fell‘: Geschichten, Prosagedichte, Verse, Galrev, Berlin 1998
‚Jungen vor Zweitausend‘: Porträtfotos aus Leipzig und Halle, Fliegenkopf-Verlag, Halle 1998
‚Und an Bahnhöfe denken‘: Gedichte, Verlag Un-Art-Ig , Aschersleben 2000
‚Die Cola-Trinker‘: Gedichte von 1980-1999, MännerschwarmSkript-Verlag, Hamburg 2000
‚Dämmerung mit Dingen‘: Roman, Galrev, Berlin 2001
‚Schwarze Archen‘: Geschichten, Fabeln, Grotesken; mit dem Fotozyklus „Jungen unterwegs“, Edition Erata, Leipzig 2003
‚Balthus und die Füchse‘: drei obskure Novellen, Eremiten-Presse, Düsseldorf 2004
‚Nachklang des Feuers‘: Gedichte, Galrev, Berlin 2005
‚Widerstehendes‘: Fotografien und Texte, Edition Erata, Leipzig 2007
‚Der Schnakenhascher‘: Roman, Projekte-Verlag Cornelius, Halle 2010
‚Heikles Handwerk‘: Gedichte, Poetenladen, Leipzig 2010
Material
Interview von Victor Kalinke (Geschäftsführer des Leipziger Literaturverlags) mit Thomas Böhme
‚Vom Fleisch verwilderte Flecken‘: Roman, Galrev, Berlin 1995
‚Heimkehr der Schwimmer‘: Gedichte, Galrev, Berlin 1996
‚Alle Spur wird Fell‘: Geschichten, Prosagedichte, Verse, Galrev, Berlin 1998
‚Dämmerung mit Dingen‘: Roman, Galrev, Berlin 2001
‚Der Schnakenhascher‘: Roman, Projekte-Verlag Cornelius, Halle 2010
Links
Thomas Böhme im Poetenladen
Thomas Böhme bei Galrev
Thomas Böhme bei blogspot und bei Literaturport
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