Von Martin Holz
Berlin, der erste Schnee, beides Nebensache, denn alles hat seine schreckliche Zeit und macht sich irgendwann aus dem Staub: es hinterlässt Abdrücke dabei und wirft seinen Schatten auf die Haut der Dinge. Wenn sich der Wind dreht, wenn die Sonne andersherum scheint, dann ziehen auch sie weiter: anders bei Anne Amelangs sichergestellten Fossilien, den schattengewordenen Wäldern, die einer anderen Zeitrechnung angehören. Zelte, Gehwegplatten und Wände, alles wird beschrieben damit, mit Schemen davon, Umrissen, mit Flecken die so tun, als wären sie übrig geblieben oder als hätten sie es nicht nötig, den Dingen nachzulaufen. Sie finden sich nicht ab mit den Gegebenheiten, damit, dass alles immer weiter zieht, dass sich das Licht ändert je nach Tages- oder Jahreszeit, dass das Laub fällt und Bäume einknicken bei Sturm.
Sie selbst tun das ja nicht: diese liegen gelassenen Spuren der Lichtverhältnisse. Nichts rührt sich an ihnen, nicht irgendein ein Bisschen: Äste machen keinen Laut bei Wind, das Zeltchen wackelt nicht und alles steht stiller, so, als gäbe es keine vergangenen und keine kommenden Momente mehr: in diese Wälder gehe ich, wenn ich in Anne Amelangs Arbeiten gehe. Der Weg dorthin führt aber nicht in dichte Baumgruppen, nicht zurück zur Natur. Vielmehr führt er in ihre Abwesenheit, zu dem, was sie verdrängte: in die ‚Boxen, die wir uns bauen, um uns härter zu machen, weich wie wir sind‘ (1) – in die Städte nämlich, in unser Leben und alles davon ist eine Kiste: wir schlüpfen aus einer Körperkiste bei Geburt, dann schlafen wir in einem Bettkasten, wir fahren in beräderten Kartons herum, unsere Häuser sind Quader und in einer Kiste verlassen wir das alles wieder. Dazwischen lungern die Schatten: wir verbannen sie auf Fotografien und die Momente, sie wachsen ungehindert fort. Aber manchmal, da bleibt etwas fürchterlich zurück – eine vergilbte Stelle an der Wand, eine Spur auf unserer Haut und in uns sind lauter Flecken: Flecken von den Geschichten, die sich angehäuft haben, die nie aufhören und der Mund ist voll davon – wie ein Wald so voll und wir suchen manchmal darin, suchen vergeblich. Denn dabei geht es nicht gerade eindeutig zu und niemals fliessend einfach. Ebenso verschwommen kommt mir mein Weg in Berlin vor, mein Weg zu Anne Amelang und daher unterbreche ich meine Schritte, setze mich an eine Bushaltestelle neben einen Mann. Der schläft dort und erweckt den Eindruck, dass die Zeit nichts mehr von ihm wissen will – unsere Zeit. Aber das ist noch etwas anderes.
Ich frage mich weiter wie es bei Anne Amelang dazu kam, dass die Kalender versagt haben und wo sie wohl stecken geblieben sind. Weßhalb sind es Blätter, Zweige und Bäume, die sich hartnäckig gegen das Datum wehren? Welcher Moment ist es, der alle Momente überschattet? Natürlich bekomme ich keine Antwort, nicht so schnell jedenfalls. Also beschliesse ich Amelangs Schatten nachzuahmen und mich genauso wenig zu rühren, wie sie es tun: ich stelle mich stiller. Neben mir der Verkehr, das schlackernde Gewimmel und ich werde zu spät kommen. Mit meinem vorläufigen Winterschlaf fallen mir plötzlich andere Dinge auf, nämlich der waghalsige Gesang der Arbeiten und das sie ebenso schön und gut sein könnten. Ich vermisse plötzlich die Härte und die Grenze, sehe nicht mehr, was ich gedacht habe und frage mich, warum in Berlin nicht hunderte Gehwegplatten fehlen, warum sie nicht von den Straßen geraubt wurden. Liegen diese Arbeiten den eigenen Dingen etwa fern und sind die Fossilien vielleicht nur Ästehtik und Bemalung? Wo, frage ich mich, wo ist der Punkt, der keine Kompromisse mehr zulässt? Doch bevor ich dazu komme, das zu beantworten, wacht er auf, der Mann, der zeitlose Flecken neben mir auf der Bank. Ich drehe ihm eine – wir rauchen zusammen, aber erzählen nichts. Er erklärt mir noch den Weg, der mich aus den Wäldern führt und zu dem Klingelschild auf dem steht: Amelang.
Anmerkungen
Beitragsbild: Anne Amelang ‚Ohne Titel‘
1 Frei zit. nach Paul Valéry ‚Weich wie wir sind, bauen wir uns Boxen, um uns härter zu machen.‘
Über Anne Amelang
1980 geb. in Karlsburg
1998 Abitur am F.L. Jahn Gymnasium Greifswald
1998-2004 diverse Auslandsaufenthalte, Arbeit für Theater – und Designwerkstätten
2004-08 Studium für autonome Kunst an der academie voor beeldene kunsten in Enschede, Nl
2006-07 Studium finearts an der Bezalel in Jerusalem, Israel
seit 2008 Arbeit für Bühnenbau, Projektarbeit in der kulturellen Bildung und freischaffende
Internationale Ausstellungen und Projektarbeiten
Material
Projektkatalog von ‚cementimage‚