Von Martin Holz
Ein verlassener Spielplatz der ehemaligen DDR. Versteckt in den Winkeln der Eisenbahnstraße, nicht weit bis zum Torgauer Platz, Leipzig. Bei den alten Tischtennisplatten treffe ich sie: Hannah Felsen. Dort also, wo wir uns kennen lernten und heute sind wir verabredet zum Schlagabtausch. Auf dem Weg dorthin, vorbei am Boxclub, bemerke ich, dass die Gegend sich veändert hat. Sie ist kein abgeschnittener Landstrich mehr, getrennt vom Rest der Stadt. Heute sind dort kleine Laden- oder Hausprojekte, ein paar illegale Bars – genug also, um sich – seine Sehnsucht – zu ersäufen wie ein Huhn. Die Straße, denke ich, ist nicht länger eine Art „Point of no Return“, der Messerstiche durch die Nacht spült oder Besoffene wie Armeen auf seinen Flüssen. Nur der Verkehr ist geblieben, zugewachsene Orte wie dieser Platz, geheime Schlupfwinkel also, die zu versteckten Bezirken führen. Als ich ankomme sehe ich die Frau mit dem Spähblick: ihre Augen ein blauer Fotoapparat und die Objektive übersetzen das Leben zwischen den Körpern – schreiben von Aufprall & Zusammenstoß. Warum, habe ich nie kapiert und ich frage mich nach den Wurzeln dieser Faszination.
„Ich sehe Unfälle, bevor sie da sind oder sie sind geschehen und die Spuren verloren. Dann hole ich sie wieder und tätowiere ihre Geschichte, zeichne ein Bild in den Ort“, sagt sie und schüttelt mit den Händen, so, als würde sie etwas abwehren, etwas verneinen. „Aber erstmal Ping & Pong“, sagt sie, „hier der Schläger und los – wir spielen“. Ich bin überrascht, was für ein Auftakt. Neben uns ein Radio, dass Chansons vergiesst, es geht um L’Amour, worum sonst, wie unpassend, denke ich noch, die Musik und sie lässt sich nicht verschlucken von den Motoren. Ich weiss nicht, was sie vor hat: noch nicht, aber ich mache oder spiele mit. Der Aufschlag kommt, ein Ball springt an meine Nase. Der erste Satz ist ein Querschläger und ich nutze die Pause, ich frage, was sie dorthin führt, zur Inszenierung von Tatorten, Misshandlung und Unglück am Straßenrand. „Das müsstest du am besten wissen“, sagt sie, „aber gut, ich zeige sie Dir, meine Geschichte und habe nur eine Bedingung“. „Welche?“ Mein Ball hüpft ins Abseits, ins Gebüsch. „Du musst mitkommen, nicht nur zuhören, du musst dein Leben kurz loslassen, für einen Moment und mir folgen. Ja?“. Ja. Ich gehe, gern mache ich das, verlasse meine Wege, betrete ihre Worte. Der Pong bleibt im Gebüsch und die Schläger schweigen zwischen Beton & Gras. Das nächste Chanson pfeift mit Blaulicht durch die Halme der Erinnerung.
„Die Katastrophen haben immer Vorsprung und nicht jeder kann Sprinten oder hat einen langen Atem. Manche geben auf, meinen, es ist unmöglich und verlassen das Minenfeld. In der Trennungsszene des Films „Nachtblende“ (1) mit Romy Schneider und Jaques Dutronc, dem Gespräch aus Verlassen & Verachtung unterhalten sich Geisterfahrer einer gescheiterten Beziehung miteinander: ihr Unfall ist die Trennung und Jaques‘ Selbstmord das Tatoo im Herzen der Zurückgelassenen. In den Zeitungen wird es Umrisse und Polizeifotos geben von diesem Unglück aus Trauer, Mitleid & Tabletten. Draußen, nicht in den Kinos, sondern den Straßen oder am Wegrand sind sie so etwas wie die Oberfläche oder die Verpackung eines Zufalls, der für die Passanten zu einem beliebigen Bild wird. Aber dahinter verbergen sich die Geschichten: die Knoten gesprenkelter, herumfliegender Momente, die ihren Schatten auf unsere Erinnerung werfen. Eine riesige Schlange, sie fliesst und ist wie der Verkehr, in dem die menschelnden Ameisen wimmeln. Zwischen ihnen, ihren Routen und den Körpern des Getummels ist Aufprall die Möglichkeit der Überschneidung, der Verknotung und der Veränderung. Und mehr. Was sie bewegt, ihren Faden spinnt, es verläuft im Geheimen und unsere Herzen sind Verstecke oder wie dieser Platz hier. Es gibt eine Art Ordnung, gesponnen vom Netz unserer Gebärden, wie ein Kostüm, das diese Winkel verheimlicht: unsere Sehnsüchte und Wunden, unsere Ängste und Bedürfnisse. Ich will dort hinein, in diese Herzen, ihre Geschichten und erlebe selbst einen Aufprall dabei: er geschieht in dem Moment, wo ein Kanaldeckel aufgeht und die Geheimnisse strömen wie Wasser, das aus der Kanalisation gedrückt wird. Es ist die Sekunde, wenn sie, die Katastrophen ihren Vorsprung ausspielen und unser Leben hochwerfen. Es ist so einfach, du kannst nichts tun, nicht das Richtige jedenfalls: Du verlässt das Haus zwei Minuten später und ein Auto erfasst dich oder der Falsche begegnet Dir. Die Gewalt der Momente oder der Horror des Zufalls sind überall und sie machen mir Angst. Ich bin die Ameise und der einzige Ausweg ist ein Leben als Fotoapparat. Was ich hinterlasse sind Bilder der Momente, die alles verändern. Sie müssen nicht Gewalt oder Brutalität bedeuten. Einmal sagte ein Freund, dass nichts, aber auch nichts harmlos sei: ein Tisch, ein Stuhl, alles kann sich verwandeln in eine Armee. Er hat recht. Ein Paar streitet sich und der Besenstiehl wird zur Waffe, jede Berührung zum Affront, was man liebte bleibt als Drohung zurück. Meine erste Belichtung geschah vor acht Jahren. Ich habe hier, am Torgauer Platz gelebt und übersetzte gerade irgendeinen spanischen Text. Ein Mann brüllte: „Das ist meine Frau, das ist meine Frau“. Ich ging zum Fenster und mein Gedächtnis wurde zum Fotoapparat seines Lebens. Er schrie also, schlug auf ein Auto ein, das am nächsten Morgen ausgebrannt war. Dieses Auto ist das Bild dieser Geschichte und ich bewahre es auf, denn woran es mich erinnerte, war seltsam: als junges Mädchen hatte ich einen Verkehrsunfall. An den Straßenrand geworfen war ich dieser Mann, dem Fremde zusahen, Sanitäter und Nachbarn. Ich war nicht die Frau am Fenster. Heute bin ich beides: ich sehe mir selbst zu in fremden Augenblicken, der Zusammstoß geschieht zwischen „mir und mich“ und der Unterschied, der darin wohnt, wird aus erfundenen Voyeurismen geschrieben wie ein Tagebuch: in den Umrissen, den verschmutzten Laken und den Körpern sehe ich die Momente, die uns verändern, die unser Leben umlenken. Etwas bricht auf, ein Insekt schlüpft aus unserem Herzen und unser Alltag, das Netz, an dem wir uns festhalten, es wird durchbrochen – wir verlieren den Halt. Die Momente werden neu gemischt – wie Karten. Eigentlich ist alles so, ein Unfall, eine Veränderung und was übrig bleibt sind Schatten. Dinge verschwinden, aber die Tätowierungen der Erinnerung lassen sich nicht einfach unter das Gedächtnis kehren. Immer wird man durch das eigene Leben geschleudert, man ist ein Spielball. Im Grunde ist jede Biographie das Ergebnis aus Ping & Pong und manchmal landet der Ball im Gebüsch oder wird von den Hunden gefressen.“
Dann sagt sie nichts mehr. Ich selbst brauche eine Weile um zurückzukehren und laufe über Umwege und Sackgassen. Wen suche ich jetzt? In einer schmalen Passage stehe ich vor mir, sage: Hannah und winke ihr zu, bin wie eine Spiegelung im Nachbarhaus, ein Schatten, der sich bewegt, ein zuckendes Männchen der Vergangenheit. Schwarzweiss ist ihre Farbe, denke ich und der Film reisst ab. Den Spielplatz wieder vor Augen, den Schläger in der Hand bringe ich den Ball ungeschickt in die Luft: er rast, gleich prallt er auf. Aber er fliegt weiter, fliegt durch Hannah hindurch und auf die Straße. Ein Auto wird getroffen, der Ball wird fortgerissen, wird unter den Rädern zerdrückt und ich schaue ihm nach wie einem papierschiff. Neben mir das Radio, der zugewachsene Sandkasten und keine Kinder spielen darin. Seit Jahrzehnten ist das so, bestimmt. Das letzte Chanson singt von Abschied & Verlassen und wir tanzen mit uns selbst, jeder für sich.
Anmerkungen
Beitragsbild: Hannah Felsen ‚accident body‘
1 Diese Szene kann hier nachgeschaut werden.
Über Hannah Felsen
1982 geb. in Berlin, lebt ebenda und in Leipzig
2000 Abitur
2001 Ausbildung Fotografie
2004-08 Studium Spanische Sprache und Kultur / Germanistik>
seit 2008 freiberuflich tätig als Künstlerin, Fotografin und Übersetzerin
Internationale Ausstellungen, Aufträge und Projektarbeiten
Links
Hier könnt Ihr über ein anderes Projekt – ‚living accident‘ (Performances, konzipiert von Hannah Felsen) – mehr erfahren