Von Martin Holz
‚Von irgend nach wo‚ (1) auf der Suche nach flanzendörfer. Ohne Anhaltspunkte oder Adresse natürlich, wie auch, flanzendörfer ist weg, ist untergetaucht und einfach nur tot: seit 1988 ist er das. Kein Namensschild spricht also mehr von ihm. Früher soll es ja auch so gewesen sein: zwischen wechselnden Lagern, Unterkünften und Standorten versuchte er unauffindbar zu bleiben. Vielleicht weil die Spürhunde der großen Krake ‚Staatssicherheit‘ hinter ihm her waren oder er nicht anders konnte. Der Unterschlupf von heute ist jedenfalls ein anderer. Ein paar ‚wrackmente‘ (2) im Rucksack – einem geschulterten Briefkasten (3) – müssen reichen, um in seine Nähe zu kommen. Sie sind der Proviant auf dieser Reise: eine Art Telefonkabel, das ins Jenseits führt.
Auf dem Weg dorthin frage ich Passanten in den Straßen nach ihm, aber sie wissen von nichts, kennen ihn nicht und schütteln sie ab, meine kindischen Worte. Keine Spuren also, die weiter helfen in diesem Fall: flanzendörfer hat auch nur wenige hinterlassen und das, was übrig ist, es hatte Glück: kurz vor seinem Tod, habe ich gelesen, verbrannte er, was er geschrieben hatte, zumindest alles, was er kriegen konnte. Die Reste davon – sie beeilen sich nun davonzukommen, als gälte es ihm zu helfen: ‚Ich / lebe um leben / zu täuschen‚ (4) schrieb er an irgendeiner Stelle und der Zusammenbruch dieser Selbstbehauptung endete im Verschwinden – im Flug von einem Feuerwehrturm. Dieser Flug, den ich nicht sah: als könnte er aus dem Fenster klettern wie ein Junge. Wie ein Junge, der wegläuft aus dem miesen Elternhaus und ich stelle mir manchmal vor, das er es geschafft hat, das er nicht tot ist. Ja, ich mache mir Hoffnung, denke, dass ich eine Chance habe ihn zu finden: also versuche ich mein Unglück weiter und hänge Zettel an die Bäume, die Laternen, die Häuser: so, wie man das tut, wenn ein Haustier entlaufen ist. Flanzendörfer aber ist kein Haustier, ist ein Mensch, ein Autor, ein Maler, der sich von der Bildfläche gestürzt hat, ein Vater von – glaube ich – zwei Kindern, ein Mann, der seine Zeit rief, bevor sie kam. Oder andere taten das, heulten sie herbei, immer dann, wenn sie ihn besuchten für ‚ungezwungene Gespräche‘ (5): so nannten die Spürhunde ihre Verhöre. Aber ich habe davon nur gelesen. Und vielleicht ist es einfach dummköpfig einem Toten nachzustellen: ich habe ja nicht einmal eine richtige Beschreibung oder so – und das reicht nicht für eine Vermisstenanzeige bei der Polizei, für Fahndung und Großeinsatz. Nein, dazu wird es nicht kommen, er würde es auch nicht wollen: dessen bin ich mir sicher. Ein anderer Weg muss zu ihm führen.
Für flanzendörfer war Schreiben ‚radikaler Selbstausdruck‘ (6). Auch seine damit verbundene Körperkunst war das, war extrem: er setzte seinen Körper einem Aufprall aus. Er fastete, immer wieder tat er das, zu oft. Er suchte darin vermutlich den Text, die Schreibhaltung, ‚die mich einschliesst‘ (7). Ich denke manchmal, dass das nicht nur Experimente waren, sondern ein notwendiges Geschehen, das ihn mit sich selbst konfrontierte, seinen Wurzeln, seinen Geheimnissen. Ob er sie aufziffern konnte, ist ungewiss. Aber so kündigte sich sein Sturz an, sein letzter Flug und ich will ihn umkehren, die Zeit zurückpfeifen und ihn treffen. Flanzendörfer oder nichts. Zum reden will ich ihn bringen, ES IST WICHTIG, sage ich, es gibt da was und das ist ‚leib eigen und fremd‘ (8). Aber die Toten schweigen bekanntlich, sie interessieren sich nicht dafür, wenn die, die noch immer herummenscheln, wenn sie erzählen wollen. Sie sind fertig damit und wollen nichts mehr hören. In dem, was sie hinterlassen, können wir Ausgrabung machen – haben aber trotzdem keine Antwort vor Augen. Man muss sich also etwas einfallen lassen, ihren Regeln folgen oder jemanden aufsuchen, der bescheid weiß.
Flanzendörfer, sagt er, sagt Johannes Jansen (9), einer seiner Freunde, flanzendörfer ist nicht tot, zumindest glaube ich das manchmal, glaube, das er seinen Tod nur vorgetäuscht hat. Mit seinem Leben hat er es ja auch so getan, musste er ja, das war eine andere Zeit und jede Zeit hat ihre Mittel. Manchmal, da begegnen wir uns, frühstücken vielleicht oder reden und trinken Wein. Als ich ihn frage, ob er ein Treffen arrangieren könne, antwortet er nicht. Vielleicht missachtet das die Regeln oder ein geheimer Pakt zwischen den Freunden. Dennoch lasse ich mich nicht abschütteln, nicht von meiner Suche jedenfalls und sage: Ich kenne ihn ja gar nicht, nicht ein Wort habe ich mit ihm gewechselt, zwei Jahre war ich alt, als er starb. Aber man begegnet sich zwischen den Zeiten und warum sollte man nicht versuchen daraus etwas zu machen. Wenn wir immer nur die Akten durchblättern, die Bücher lesen, was soll das: da benimmt man sich doch auch nur wie ausgestorben. Das Tote muss leben, muss befreit werden. Johannes, sage ich, flanzendörfer ist mein fremder Freund, glaubst du, er hätte etwas dagegen, wenn ich seinen Weg einschlage, um ihn zu finden. Nein, sagt er, aber wie stellst du dir das vor. Ich werde tun, was zu tun ist, sage ich, das selbe versuchen wie er, einen Text geschehen lassen, koste es, was es wolle, ich habe mich entschieden: und so muss es sein. Was er tat, es ähnelt mir: also werde ich fasten und ihm Nachrichten schreiben. Sie her: einen Briefkasten habe ich immer mit dabei, fehlt nur noch ‚der richtig eigentliche Acker‘ (10). Vielleicht hört er jedenfalls davon im Jenseits, vielleicht kann er sich noch einmal Zeit nehmen, für eine Zigarette zum Beispiel und wir können dann die Sekunden verbringen oder die Chance nutzen, um das Totenreich auszutricksen. Man könnte ihn ja erwecken, ich meine vielleicht ist er doch wirklich noch immer da und früstückt in Abwechslung mit seinen Freunden: die dicht halten und ihn nicht verraten an die Spürhunde. Und ja, vielleicht gefällt ihm das und er sagt sich: Schluss mit Atempause, mit Untertauchen und Verschwundensein.
Anmerkungen zum Hintergrund
In dem Projekt ‚flanzendörferexperiment‘ werde ich es tun: keine Worte mehr, sondern die Beschwörung der Toten. Ich werde, wie flanzendörfer es tat, fasten. Und ich werde schreiben, werde alles tun, um ihn zu finden. Das Projekt endet, wenn der Text endet. Die Regel lautet also: alles oder flanzendörfer. Daher wird flanzendörfer als Teilnehmer von ‚conquering places‘ geführt. Ein erstes, entwurfähnliches Exposé könnt Ihr hier herunterladen. Der Grund weßhalb flanzendörfer für mich wichtig ist, besteht in seiner Schreibhaltung: Sprache als radikaler Selbstausdruck. Genauer gehe ich darauf in ‚THESEN ZUR SACHE DES BARBAREN‘ ein. Ihr findet diesen Text hier.
Anmerkungen
Beitragsbild: Martin Holz
1 zit. nach flanzendörfer aus ‚unmöglich es leben‘
2 flanzendörfer bezeichnete seine Texte als ‚wrackmente‘
3 ich referiere auf ‚totenbeschwörer‘, einen modifizierten Briefkasten, der im Zusammenhang mit ‚flanzendörferexperiment‘ zum Einsatz kommen wird. Material dazu findet ihr hier.
4 zit. nach flanzendörfer aus ‚unmöglich es leben‘
5 zit. nach Peter Böthig aus ‚unmöglich es leben
6 zit. nach flanzendörfer aus ‚unmöglich es leben‘
7 zit. nach flanzendörfer aus ‚unmöglich es leben‘
8 zit. nach flanzendörfer aus ‚unmöglich es leben‘
9 ich habe mit Johannes Jansen über flanzendörfer gesprochen, ihm mein Anliegen und auch mein Projekt ‚flanzendörferexperiment vorgestellt. Ich bemühe mich um eine sinngemäße, aber auch um eine bildhafte Wiedergabe.
10 ich referiere auf meine Ausführungen in ‚THESEN ZUR SACHE DES BARBAREN‘
Über flanzendörfer
flanzendörfer war / ist das Pseudonym von Frank Lanzendörfer: Autor, Grafiker, Maler, Performer. Er galt als extremer Künstler – vorallem in Bezug auf seine Körperkunst und –Experimente: er fastete und versuchte in diesem Rahmen Texte zu produzieren. Schreiben war für ihn ‚radikaler Selbstausdruck‘.
1962 in Oberpoyritz (Sachsen) geboren
ab 1983 freischaffender Künstler in der Underground-Szene der DDR
Mitgründer der Zeitschrift ’schaden‘
1988 gestorben durch einen Sturz von einem Feuerwehrturm
Veröffentlichtungen / Beteiligungen
Beteiligung an den Künstlerbüchern: ‚Verlustich‘ (1985), ‚Achkrach Kuckbuck‘ (1986) und ‚Flugschutt‘ (1986)
In Zeitschriften: ‚Bizarre Städte (Berlin), ‚Liane‘ (Berlin), ‚UND‘ (Dresden), ‚USW‘ (Dresden) und ‚Verwendung‘ (Berlin)
Sowie in: ‚Temperamente‘, ‚Jahrbuch der Lyrik 1986‘ (Luchterhand-Verlages) und in den Anthologien ‚Die andere Sprache. Neue DDR-Literatur der 80er Jahre‘ und ‚Ein Molotow-Cocktail auf fremder Bettkante‘.
Material
flanzendörfer: ‚unmöglich es leben‘ (zusammengestellt von Peter Böthig und Klaus Michael), Janus Press; Berlin 1992
Martin Holz: ‚flanzendörferexperiment‘ (Exposé) auf www.gosteditor.de
Martin Holz: ‚THESEN ZUR SACHE DES BARBAREN‘ auf www.gosteditor.de
Artikel: ’39. Bizarre Städte‘ bei Lyrikzeitung & Poetry News bzw. auf www.lyrikzeitung.com (Hrsg. Dr. Michael Gratz)
Rezensionen und Texte zu: ‚unmöglich es leben‘ auf www.planetlyrik.com
Links
flanzendörfer auf wikipedia